Muskelverletzungen gehören zu den häufigsten Sportverletzungen überhaupt. Das gilt gleichermaßen für Freizeit- und Leistungssportler. Muskelverletzungen werden in vielen Fällen unterschätzt, nicht genau genug abgeklärt und in der Folge unzureichend behandelt.
Grund dafür sind nicht vereinheitlichte klinische und radiologische Klassifikationen. Nicht alle Sportler mit Muskelverletzungen werden von ausgebildeten Sportmedizinern oder Spezialisten für den Bewegungsapparat versorgt und auch nicht alle Fachärzte haben die notwendige Routine in der Versorgung von Muskelverletzungen.
Die zum Zeitpunkt der Verletzung 21-jährige Yanna Schneider ist Mitglied der deutschen Taekwondo-Nationalmannschaft. Sie war unter anderem U17-Weltmeisterin und wiederholt bei den Europameisterschaften platziert. Sie stellte sich im Oktober letzten Jahres mit starken Schmerzen im Ursprungsbereich des rechten Musculus biceps femoris und einem hinkenden Gangbild in unserer Sprechstunde vor. Am Tag zuvor hatte sie nach ca. 1 Stunde Trainingszeit bei einem hohen Kick einen reißenden Schmerz im Gesäß und an der proximalen Oberschenkelrückseite rechts verspürt. Eine Gegnereinwirkung lag nicht vor.
Entlastungshinken. Keine Veränderung der Haut oder Weichteile. Intensiver Druckschmerz am Tuber ischiadicum mit Ausstrahlung in den Musculus biceps femoris. Deutlich erhöhter Muskeltonus. Ein struktureller Defekt ist nicht sicher tastbar. Verstärkung der Schmerzen bei Anspannung des Muskels. Keine Sensibilitätsstörung. PSR und ASP seitengleich lebhaft.
3-Tesla-MRT mit einer hochauflösenden Oberflächenspule. Hier zeigt sich eine Einblutung und ein Muskelbündelriss > 5 mm am Ursprung der posterioren Oberschenkelmuskulatur, insbesondere des Musculus biceps femoris am Hinterrand des Tuber ischiadicum ohne knöcherne Beteiligung.
Wir verwenden für die Diagnostik von Muskelverletzungen die klinische Einteilung von Müller-Wohlfarth und die MRT-basierte Einteilung von Rybak. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Typ 3B (Müller-Wohlfarth) und Grad 2 (Rybak) Verletzung des Musculus biceps femoris rechts.
Nach 1 Woche ist ein schmerzfreies Gehen ohne Unterarmgehstützen möglich. Ab der 3. Woche erfolgt Beginn mit einem langsamen Lauftraining. Zunehmende Intensivierung des Lauftrainings und schrittweiser Wiedereinstieg in den Leistungssport in den Wochen 4 - 6. Die Sportlerin konnte anschließend wieder uneingeschränkt an ihrem Wettkampftraining teilnehmen.
Ein Kontroll-MRT wird 4 Monate nach der Verletzung zur Qualitätskontrolle im Rahmen unserer Verlaufsbeobachtungen angefertigt.
Voraussetzung für einen optimalen Wiedereinstieg in den Leistungssport sind eine strukturelle Heilung, eine funktionelle Wiederherstellung und die mentale Bereitschaft des Sportlers. Orthobiologische Therapieverfahren können unserer Erfahrung nach den strukturellen Heilungsverlauf erfolgreich unterstützen. Es besteht in der Literatur derzeit kein einheitlicher Konsens hinsichtlich der Behandlungsprotokolle – ob, wann, wie oft, wie viel ACP eingesetzt werden soll (1 - 7).
Betrachtet man die mit 12 - 31% beachtlich hohe Rate erneuter Verletzungen der Hamstrings so wird klar, dass eine differenzierte Diagnostik und ein multimodales Therapiekonzept die Chance für einen nachhaltigen Erfolg verbessern.
Mein „WARUM“ für den Einsatz von ACP bei akuten Muskelverletzungen ist die Hypothese, dass die wiederholte Gabe zu einer qualitativ besseren strukturellen lokalen Heilung führen kann. Darunter verstehe ich eine kleinere Narbe und eine bessere Gewebequalität. Negative Erfahrungen in der Anwendung von ACP bei Muskelverletzungen kann ich, im Gegensatz zu einigen anderen Therapieverfahren, nicht berichten. Wünschenswert sind für die Zukunft eine bessere wissenschaftliche Absicherung erfolgreicher Therapieprotokolle.
Literatur
Dr. med. Markus Klingenberg ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit den Zusatzbezeichnungen Sportmedizin, Manuelle Medizin und Notfallmedizin.
Er ist leitender Arzt der Orthopädie und Sportmedizin an der Beta Klinik in Bonn. Sein Behandlungsschwerpunkt ist die arthroskopische Behandlung von Schulter-, Knie- und Sprunggelenksverletzungen.
Er ist zertifizierter AGA-Arthroskopeur und Fußchirurg. Dr. Klingenberg ist Autor des Buches „Return to Sport - Funktionelles Training nach Sportverletzungen“ und ist regelmäßig Referent in der sportmedizinischen Weiterbildung von Ärzten, Physiotherapeuten und Trainern.
Zusammen mit seinen orthopädischen und radiologischen Kollegen ist Dr. Klingenberg Kooperationspartner des Olympiastützpunkts Rheinland. Seine beiden Kollegen Peter Braun und Philip Ibe betreuen 2 deutsche Nationalmannschaften (Fechten und Feldhockey).
Seit Anfang 2016 schauen die Kollegen auf über 1 000 ACP Anwendungen zurück. Mit ACP Tendo nimmt Dr. Klingenberg an einer Multicenter-Studie teil und erfasst seine Ergebnisse mit dem Surgical Outcome Survey System (SOS).